Wie gelingt erotische Literatur?

Heute wird es schlüpfrig: Wann ist eine erotische Szene in der Literatur gelungen? Drei Analysen zu Texten von Wolfgang Herrndorf, Benjamin Lebert und Günter Grass.

Uuuh, heute wird es schlüpfrig. Also lasst eure Hände da, wo ich sie sehen kann.

Heute geht es um Erotik in Literatur.

Wann ist die literarische Darstellung einer erotischen Szene oder einer expliziten Sex-Szene gelungen? Wie gelingt erotische Literatur?

Aber ich hätte nicht Literatur studiert, wenn ich nicht erst eine Definition verlangen würde. Also, was ist eigentlich Erotik?

Blanke Brüste und das Begehren

Wer „Erotik“ googelt findet – wie nicht anders zu erwarten – eine Menge schlüpfriger Angebote, aber keine Definition des Begriffs.

Die erhält erst, wer die Suche etwas eingrenzt:

Laut Wikipedia bezeichnet „Erotik“: „…die sinnliche Anziehung zweier oder mehrerer Menschen.“

Der Duden fasst den Begriff noch etwas genauer als: „1. den geistig-psychischen Bereich einbeziehende sinnliche Liebe; Liebes-, Geschlechtsleben. 2. (verhüllend) Sexualität.“

Die wichtigsten Punkte aus beiden Definitionen sind:

      • Erotik umfasst den Bereich des Körpers; sie bezieht sich auf die sinnliche Wahrnehmung (eines Körpers).
      • Sie umfasst aber auch einen psychologischen Aspekt, eben die Anziehung bzw. ein Begehren nach der sinnlichen Wahrnehmung.
      • Sie hat natürlich etwas mit dem Geschlechtsleben des Menschen zu tun. Allerdings zeigt sie Sex lediglich „verhüllt“. Geschlechtsverkehr allein macht noch keine Erotik.
      • Während der Duden von Liebe spricht, fehlt sie in der Definition der Wikipedia. Ich will jetzt kein weiteres Fass aufmachen und mich fragen, was „Liebe“ eigentlich ist. Nur so viel: Es gibt einen Unterschied zwischen romantischer Liebe und begehrlicher Liebe – und während romantische Liebe nicht unbedingt sexuell sein muss, braucht es für die Erotik das prickelnde Begehren von Körpern.

Fassen wir mal zusammen: Erotik meint die sexuelle Anziehung zwischen Menschen; sie drückt sich in einem Begehren auf und in der sinnlichen Wahrnehmung des Körpers aus.

Man merkt schon: Eine gelungene Darstellung muss sinnliche Wahrnehmungen ebenso gut schildern können, wie das Begehren nach dem Anderen. Und noch dazu braucht es die Doppeldeutigkeiten erotische Begegnungen, in der Sexualität irgendwie verhüllt eingebunden ist.

Klingt nach keiner leichten Aufgabe, oder?

Herzinfarkte und aufgeblasene Penisse

tschick

Eine der gelungensten Darstellungen einer erotischen Szene, an die ich mich sofort erinnere, stammt aus dem Jugendroman Tschick von Wolfgang Herrndorf.

**Hier muss ich kurz einwerfen: Es handelt sich um einen Jugendroman, dementsprechend sind die Protagonisten Jugendliche – 14 Jahre alt, um genau zu sein. Lassen wir mal das komische Gefühl beiseite, dass einen beschleicht, wenn man merkt, dass die Schilderung minderjähriger Sexualität für einen Erwachsenen anstößig ist; und fühlen uns einfach erinnert daran, wie wir – frisch angelangt in der Pubertät – Sex entdeckten.**

Jugendromane müssen also zwangsläufig erotische oder explizite Sexszene enthalten. Immerhin sind ihre Protagonisten Jugendliche und befinden sich damit genau in der Phase, in der Sex zum großen Thema wird.

Noch dazu lässt sich keine Szene einfacher als durch Erotik motivieren, und den Leser tiefer in die Handlung ziehen. Ein Selbstläufer, wie auch Herrndorf bei seiner Kritik einer missglückten Storyline von Uwe Timm meint:

Uhren und Brötchen und Mädchen hätte ich am liebsten geschrieben, aber selbst das Mädchen, den Selbstläufer einer wie auch immer vermurksten Adoleszenzgeschichte kriegt er nicht hin, versackt im Nichts.

Bei Herrndorf versackt nichts im Nichts, dazu ist er zu sehr Plot-Tüftler. In  „Tschick“  fahren zwei Jugendliche, Maik und Tschick, mit einem geklauten Auto durch Deutschland. Auf einer Müllhalde treffen sie das Mädchen Isa. Gemeinsam fahren sie weiter und halten an einem Stausee.

Hier beginnen Maik und Isa ein bisschen zu schäkern. Eingeleitet durch das Bad von Isa im See, das Maik nicht umhin kommt zu beobachten:

… und ich wusste nicht, wo ich hingucken sollte. Ich guckte mal hier-, mal dahin. Sie hatte eine wirklich tolle Figur und eine Gänsehaut. Ich hatte auch eine Gänsehaut. (167)

Mehr braucht es nicht, als dem Leser klar zu machen, dass Maik auf Isa steht. Und die Gemeinsamkeit, dass beide eine Gänsehaut haben, stellt zwischen ihnen eine klare Beziehung her, ohne dass es ausdrücklich gesagt werden müsste.

Natürlich baut Herrndorf das in den nächsten Seiten aus. Am nächsten Tag sind die beiden alleine, Isa lässt sich von Maik die Haare schneiden, wobei sie kein T-Shirt trägt (wegen der abgeschnittenen Haare, klar).

Sie werden von einem Perversen gestört, der Isa vom Gebüsch aus anglotzt und masturbiert. Ein deutlicher Hinweis, dass Isa nicht einfach nur ästhetisch schön anzusehen, sondern sexuell attraktiv ist.

Und dann entfaltet sich eine Situation, in der mehr jugendliches Begehren enthalten ist, als in zwei Seiten eigentlich passt:

Als ich fertig war, wischte Isa die abgeschnittenen Haare weg, und dann saßen wir auf der Staustufe nebeneinander, schauten in die Landschaft und warteten, dass Tschick zurück kam. Isa hatte ihr T-Shirt noch immer nicht angezogen, und vor uns lagen die Berge mit ihrem blauen Morgennebel, der in den Tälern schwamm, und dem gelben Nebel in den Tälern hinten […].
„Hast du schon mal gefickt?“, fragte Isa.
„Was?“
„Du hast mich gehört.“
Sie hatte ihre Hand auf mein Knie gelegt, und mein Gesicht fühlte sich an, als hätte man heißes Wasser draufgegossen.
„Nein“, sagte ich.
„Und?“
„Was und?“
„Willst du?“
„Was will ich?“
„Du hast mich schon verstanden.“
„Nein“, sagte ich.
Meine Stimme war ganz hoch und fiepsig. Nach einer Weile nahm Isa ihre Hand wieder weg, und wir schwiegen mindestens zehn Minuten, von Tschick immer noch keine Spur. Auf einmal kamen mir die Berge und das alles ziemlich uninteressant vor. Was hatte Isa da gerade gesagt? Was hatte ich geantwortet? Es waren nur ungefähr drei Worte, aber – was bedeuteten sie? Mein Gehirn nahm ungeheuer Fahrt auf, und ich würde schätzungsweise fünfhundert Seiten brauchen, um aufzuschreiben, was mir in den nächsten fünf Minuten alles durch den Kopf ging. Es war wahrscheinlich auch nicht sehr spannend, es ist nur spannend, wenn man gerade drinsteckt in so einer Situation. Ich fragte mich nämlich hauptsächlich, ob Isa das ernst gemeint hatte, und auch, ob ich das ernst gemeint hatte, als ich gesagt hatte, dass ich nicht mit ihr schlafen will, falls ich das überhaupt gesagt hatte. Aber tatsächlich wollte ich gar nicht mit ihr schlafen. Ich fand Isa zwar toll und immer toller, aber ich fand es eigentlich auch vollkommen ausreichend, in diesem Nebelmorgen mit ihr dazusitzen und ihre Hand auf meinem Knie zu haben, und es war wahnsinnig deprimierend, dass sie die Hand jetzt wieder weggenommen hatte. Ich brauchte eine Ewigkeit, bis ich mir einen Satz zurechtgelegt hatte, den ich sagen konnte. Ich übte diesen Satz in Gedanken ungefähr zehnmal, und dann sagte ich mit einer Stimme, die klang, als würde ich gleich einen Herzinfarkt kriegen: „Aber ich fand es schön mit deiner…ähchrrm. Hand auf meinem Knie.“
„Ach?“
„Ja.“
„Und warum?“
Und warum, mein Gott. Der nächste Herzinfarkt. Isa legte ihren Arm um meine Schulter.
„Du zitterst ja“, sagte sie.
„Ich weiß“, sagte ich.
„Viel weißt du nicht.“
„Ich weiß.“
„Wir könnten ja auch erst mal küssen. Wenn du magst.“
Und in dem Moment kam Tschick mit Brötchentüten durch die Felsen gestiegen, und es wurde nichts mit Küssen. (170ff.)

Was Herrndorf hier brillant einfängt, ist Maiks Unerfahrenheit und Schüchternheit; nicht zu wissen, wie er sich verhalten soll in dieser Situation, und nicht zu wissen, was er eigentlich hier fühlt. Er weiß nur, dass es sich gut anfühlt, Isas Hand auf seinem Knie zu spüren.

Was Herrndorf außerdem gekonnt in die Seiten packt, sind die ganzen Doppeldeutigkeiten, die erotische Szenen ausmachen. (Zur Erinnerung, der Duden: „(verhüllt) Sexualität“) Maik ist deutlich verlegen und verwirrt zugleich bei all den Möglichkeiten, die in dieser Situation stecken.

Viel passiert nicht in dieser Szene, aber die Spannung zwischen den beiden wird in den sprachlichen Bildern (das heiße Wasser, der Herzinfarkt, der Nebelmorgen, etc.) eingefangen. Eine Spannung, die sich aus der Nicht-Eindeutigkeit  des Turtelns ergibt.

Sehen wir uns zum Vergleich eine ganz anders gestaltete erotische Szene aus einem anderen Jugendroman an: Crazy von Benjamin Lebert.

crazy

Der Ich-Erzähler Benjamin kommt im Roman in ein neues Internat und kommt nach zwei Tagen auf einer Party dem Mädchen Marie sehr nahe:

Ich trinke noch einen Schluck Bier. Marie steht auf. Sie will noch ein paar Chips holen. In dem schimmernden Kerzenlicht sehe ich ihren Körper. Nach kurzer Zeit legt sie sich zu mir zurück. Ich spüre ihre verdeckten Brustwarzen auf meinem Bauch. (76)

Die beiden reden, flirten ungelenk und trinken noch mehr Bier. Dazwischen erinnert sich Benjamin immer wieder an sein Leben zuhause bei seinen Eltern. Die Erzählung wird gekonnt von diesen Erinnerungen überlagert und eine verschwommene Atmosphäre aus Alkohol, Hormonen und Assoziationen entstehen.

Und dann landen Benjamin und Marie gemeinsam auf der Toilette und haben Sex, den Lebert nicht scheut, ausführlich zu wiederzugeben:

Marie setzt sich rittlings auf mich. Ich glaube, ich bin in ihr. Es ist ein unangenehmes Gefühl. So schön, wie alle sagen, ist das Nageln gar nicht. Ich fühle mich eingeengt. Mein Schwanz tut weh. Aber ich bin ein Mann. Ich grapsche nach ihren Titten. Drücke sie zusammen. […] Maries Becken kreist heftiger. Mein Schwanz bläst sich immer mehr auf.
[Spulen wir etwas vorwärts…, Anm.]
Gleich komme ich. Noch fünf Sekunden vielleicht. Dann bin ich da. Ich spritze ab. Adrenalin wird durch meinen Körper gepumpt. Ich fühle mich frei. Höre das Zwitschern von Vögeln. Das Plätschern von Wasser. Einen Sturm. Mein Körper zittert.

Expliziter lässt sich eine Sex-Szene nicht schreiben. Ist das noch Literatur? Oder schon Pornographie?

Eine Antwort auf diese Frage spare ich mir für später. Was sich aber sagen lässt, ist: Diese Szene wirkt um einiges weniger eindrücklich als der Ausschnitt von Tschick.

Bei Lebert ist nichts zu spüren von einem prickelnden Begehren und der Doppeldeutigkeit erotischer Begegnungen. Man könnte einwenden, das liege daran, dass der Ich-Erzähler hier einfach kein solches Begehren spürt. Oder dass die Doppeldeutigkeit zugunsten einer expliziten Darstellung weichen musste.

Oder liegt es gar daran, dass der ganze sexuelle Akt hier beschrieben wird? Während für die eindrücklichste Darstellung man gut daran tut, den Höhepunkt wegzulassen und der Phantasie zu übergeben?

Dass die erotische Szene bei Tschick gegenüber Crazy gelungener ist, liegt meiner Meinung aber vor allem an der völligen Abwesenheit von sprachlichen Bildern in Leberts Roman.

Die „verdeckte Brustwarze“ ist eben nur das: ein verdecktes Körperteil. Die einzigen metaphorischen Ausdrücke in der Szene sind der aufgeblasene Penis und die klischeehaften Bilder nach dem Orgasmus. Vogelgezwitscher, das Rauschen von Wasser – ernsthaft?

Wie man Sex impliziter beschreiben kann, zeigt ein Klassiker der deutschen Literatur: Die Blechtrommel von Günter Grass.

Das Brausepulver

die blechtrommel

Die Blechtrommel wird erzählt von Oskar Matzerath, der nach seinem dritten Lebensjahr aufhört zu wachsen, aber geistig schon völlig entwickelt ist. Äußerlich ein Kind, innerlich ein Erwachsener.

Als er Maria begegnet, entspannt sich eine seltsame Romanze zwischen den beiden, bei der Brausepulver eine entscheidende Rolle spielt. Maria liebt es, ein Tütchen des Pulvers in ihre Hand zu geben, Oskar darauf spucken zu lassen und das Prickeln der Brause zu genießen.

Eines Nachts schlafen Maria und Oskar im selben Bett und die angedeutete sexuelle Beziehung der beiden durch das Brausepulver (und andere nicht ganz eindeutige Situationen) wird zum Geschlechtsverkehr:

Sie beugte sich vor, wollte mit der Zunge die brausenden Himbeeren in ihrem Bauchnabeltöpfchen abstellen, wie sie den Waldmeister in der hohlen Hand zu töten pflegte, wenn der seine Schuldigkeit getan hatte, aber ihre Zunge war nicht lang genug; ihr Bauchnabel war ihr entlegener als Afrika oder Feuerland. Mir jedoch lag Marias Bauchnabel nahe, und ich vertiefte meine Zunge in ihm, suchte Himbeeren und fand immer mehr, verlor mich so beim Sammeln, kam in Gegenden, wo kein nach dem Sammelschein fragender Förster sein Revier hatte, fühlte mich jeder einzelnen Himbeere verpflichte, hatte nur noch Himbeeren im Auge, Sinn, Herzen, Gehör, roch nur noch Himbeeren […].
Und als ich die nicht mehr fand, da fand ich wie zufällig an anderen Orten Pfifferlinge. Und da die tiefer versteckt unterm Moos wuchsen, versagte meine Zunge, und ich ließ mir einen elften Finger wachsen, da die zehn Finger gleichfalls versagten. Und so kam Oskar zu einem dritten Trommelstock – alt genug war er dafür. Und ich trommelte nicht Blech, sondern Moos. Und ich wußte nicht mehr: Bin ich das, der da trommelt? Ist es Maria? Ist das mein Moos oder ihr Moos? Gehören das Moos und der elfte Finger wem anders und die Pfifferlinge nur mir? Hatte der Herr da unten seinen eigenen Kopf, eigenen Willen? Zeugten Oskar, er oder ich? (341f.)

Es ist eindeutig, was hier geschieht, ohne dass explizit irgendwelche Geschlechtsteile genannt werden. Grass‘ Darstellung droht teilweise schon, ins Komische abzurutschen durch Metaphern wie der elfte Finger oder das Moos.

Aber wie viel mehr ist man als Leser in dieser Szene als bei Crazy?

Das liegt vor allem an der bildlichen Sprache der Blechtrommel, an ihren Metaphern. Die Metapher zwingt uns, schreibt der Literaturwissenschaftler Gerhard Kurz in Metapher, Allegorie, Symbol,

[…] uns auf die Bedeutung der kontextuell beteiligten Ausdrücke rückzubesinnen. Wir aktualisieren die Bedeutung der beteiligten Wörter, um herauszufinden, welche mögliche Bedeutung die Metapher hat. […] Wir erzeugen eine Bedeutung und sind auf diese Bedeutungserzeugung konzentriert. Dies heißt: „stellt vor Augen“. (26)

Und so lässt sich auf die Frage „Wie gelingt die literarische Darstellung erotischer Szenen?“ antworten: So wie jede gute literarische Darstellung gelingt. Wer glaubt, einfach nur platt und eindeutig beschreiben zu können, was beschrieben werden will, liegt falsch.

Literatur ist keine Maschine, die einfach ein Phantasiebild für den Leser durch verschiedene Wörter erzeugt. Nur weil man „Penis“ liest, muss man noch lange nicht an einen denken. Literatur braucht die Mitarbeit des Lesers, um erst wirklich lebendig zu werden. Erst wenn der Text diese Mitarbeit provoziert, ist er lebendig.

Das heißt, für eine gelungene erotische Szene braucht es ausgefallene Metaphern und treffende Vergleiche – und keine platten Kataloge von Geschlechtsteilen wie in der Bravo. Erst dann lässt sich die schwelende Anziehung und das Aufbrausen des Begehrens zwischen Menschen sensibel und eindrücklich auf’s Papier bringen.

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Zitate aus: Wolfgang Herrndorf: Tschick. Rowohlt, 2010. // Benjamin Lebert: Crazy. Goldmann, 2001. // Günter Grass: Die Blechtrommel. Dtv, 1993. // Gerhard Kurz: Metapher, Allegorie, Symbol. Vandenhoeck & Ruprecht, 1997.

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