Zwei Zutaten, die gute Literatur braucht

Kann man gute Literatur trennscharf von schlechter unterscheiden? Ich sage: Ja, das geht. Hier sind zwei Zutaten von guter Literatur. 

Wie kann ein Kritiker ein absolutes Urteil über ein Buch sprechen?

Ein Urteil, das nicht nur den persönlichen Geschmack wiedergibt. Sondern eines, das einfach gilt – über Geschmäcker und Moden hinweg.

Was gute Literatur ist, scheint jeder schon immer zu wissen. Ich habe das aber nie als eindeutig empfunden.

Viele Klassiker finde ich noch heute langweilig. Andere Autoren, die eher als Unterhaltung gelten, verehre ich.

Mittlerweile aber bin ich auf zwei Komponenten gekommen, die gute Literatur braucht.

Was ist gute Literatur?

Der Literaturwissenschaftler Hans-Dieter Gelfert hat ein Buch geschrieben, das eben diese Fragen beantworten soll. Es heißt daher auch schlicht: „Was ist gute Literatur“.

Hat dieses Buch die gesuchte Antwort parat, die jeder für sich bei der Lektüre anwenden kann?

Naja, fast. Gelfert liefert 13 Kriterien, nach denen Literatur beurteilt werden sollte:

1) Vollkommenheit

2) Stimmigkeit

3) Expressivität

4) Welthaltigkeit

5) Allgemeingültigkeit

6) Interessantheit

7) Originalität

8) Komplexität

9) Ambiguität

10) Authentizität

11) Widerständigkeit

12) Grenzüberschreitung

13) das gewisse Etwas

So ausführlich dieser Katalog von Kriterien ist, so habe ich doch meine Probleme mit ihm.

Denn: Vollkommenheit, Stimmigkeit, Interessantheit, das gewisse Etwas – sind das nicht Dinge, die jeder anders empfindet? Die man diskutieren kann – und muss?

Und ist es nicht gerade das gewisse Etwas, das ein großartiges Buch erst großartig macht? Was sagt Gelfert über das gewisse Etwas:

Zur Beurteilung des Materials mögen unsere zwölf Kriterien taugen, doch welcher Funke sie zum Leben erweckt, bleibt ein Geheimnis. Dieser Funke ist das Entscheidende.

Wenn aber dieser Funke ein Geheimnis bleibt, dann sind wir der Frage, was gute Literatur ist, keinen Schritt näher gekommen.

Aber wie Gelfert richtig feststellt, ist dieser Funke für jedes Kunstwerk einzigartig. Dieser Funke ist es, der jedes Kunstwerk von allen anderen abhebt – und alle großartigen Kunstwerke in ihrer Verschiedenheit auszeichnet.

Für jeden Roman muss das gewisse Etwas also immer wieder bestimmt werden, um ein gültiges Urteil über ihn verkünden zu können.

Daher finden sich auch in „Was ist gute Literatur“ detaillierte Besprechungen von einzelnen Texten, deren individuelle Genialität Gelfert ausfindig macht und erklärt.

Das ist einerseits sehr lesenswert. War für mich allerdings immer zu wenig anwendbar.

Wenn ich dreizehn Kategorien jonglieren muss, von denen jede so oder so zu beurteilen ist – dann bekomme ich kein zwingendes Urteil.

Deswegen mache ich jetzt einen Vorschlag, Literatur nach zwei Aspekten zu beurteilen: nach Dichte und nach Resonanz.

Dicht & Gedrängt

Als ich etwa zum ersten Mal „Lolita“ von Nabokov gelesen habe, war ich gleich geplättet von der dichten Sprache des Romans.

Man merkt, wie viel Aufmerksamkeit jedem Satz und sogar jedem Wort gewidmet ist.

Antoine de Saint-Exupéry, Autor von „Der kleine Prinz“, schrieb:

Perfektion ist nicht dann erreicht, wenn es nichts mehr hinzuzufügen gibt, sondern wenn man nichts mehr weglassen kann.

Und so sind auch bei „Lolita“ kein Satz und nicht einmal ein Wort zu viel. Jedes Teilchen ist wichtig und hat eine Funktion.

Drei Vokale, die Zunge und Perfektion

Schon der berühmte erste Absatz des Romans zeigt das:

Lolita, light of my life, fire of my loins. My sin, my soul. Lo-lee-ta: the tip of the tongue taking a trip of three steps down the palate to tap, at three, on the teeth. Lo. Lee. Ta.

Nicht nur wimmeln diese Sätze vor Alliterationen, spielen mit den drei Vokalen des Namens “Lolita” und sind dadurch poetisch durchgeformt.

Auch das Thema und die ganze abscheuliche Problematik des Romans werden mit „light of my life, fire of my loins. My sin, my soul“ schon angedeutet. Sagt diese Worte doch der Pädophile Humbert Humbert über ein Mädchen, das zwölf ist, als er sie zum ersten Mal trifft – und sich in sie verliebt.

So poetische Worte für ein zwölfjähriges Mädchen zeigen, wie Humbert seine Lolita überhöht, bzw. wie sehr sie seine eigene Kreation ist. Es ist dieser selbst kreierte Charakter „Lolita“, den Humbert liebt. Und es ist die Lücke zwischen dem Mädchen Lolita, das eigentlich Dolores heißt, und Humberts Lolita, die den Roman so spannend machen. Denn wie zwei Blätter, die nicht deckungsgleich zum Liegen kommen, liefert uns Humbert die Sicht seines Blatts, seiner Lolita. Aber das Blatt von Dolores lugt an den Rändern manchmal hervor.

Muss gute Literatur sprachlich immer so brillant (oder pompös) sein wie Nabokov?

Consider the Russian

Der von Nabokov ungeliebte Dostojewski
Der von Nabokov ungeliebte Dostojewski

Nabokov verabscheute Dostojewski. Auch wenn der zu den Klassikern der russischen Autoren gehört, war Dostojewski kein so sprachlich begabter Autor wie Nabokov. Dostojewski schrieb schnell, um sein Geld zu verdienen. Und das merkt man auch.

Als David Foster Wallace eine neue Dostojewski-Übersetzung besprach, ärgerte er sich über den vermeintlich schlechten Stil des Übersetzers. Dabei ging der schlechte Stil auf die Kappe von Dostojewski selbst.

Und trotzdem sind die Romane von Dostojewski dicht. Nicht sprachlich, aber in ihrer Symbolik und ihren Vorausdeutungen.

„Verbrechen und Strafe“ (ehemals: „Schuld und Sühne“) beginnt mit dem Gang der Hauptfigur Raskolnikow zu einer Geldleiherin, die er später umbringen wird.

Er spricht sein schon geplantes Verbrechen hier nicht offen aus. Aber er deutet es mindestens 20 Mal an.

Wenn der Mord dann endlich geschieht, ist man als Leser schon so aufgewühlt, dass man das Fieber Raskolnikows nach der lange geplanten Tat mitfühlt.

Mit Dichte meine ich also einerseits sprachliche, aber auch formale Gedrängtheit.

Wenn man nichts mehr wegnehmen möchte von den Sätzen oder von Handlungsverläufen und Kapiteln.

Während die Dichte das Kritikerhirn befriedigt, erfüllt mein zweiter Aspekt der Resonanz das Leserherz.

Der Widerhall von Menschlichkeit

Auch ein formal perfekter Text kann den Leser irgendwie kalt lassen.

Irgendwie trifft es nichts in ihm, bringt nichts bei ihm zum Schwingen.

Genau das meint Resonanz: etwas zum Schwingen bringen im Leser.

Gelfert verortet das irgendwo zwischen Welthaltigkeit, Allgemeingültigkeit, Authentizität und dem Dichter als Weltdeuter.

Was ich damit meine, ist nicht nur, dass man sich in dem Text auf eine gewisse Weise wiedererkennt; dass man sich mit dem Helden oder der Heldin identifizieren kann.

Es geht hier– so pathetisch sagt das Gelfert – um „die zentralen Fragen des Menschseins“, die man im Text wenn schon nicht beantwortet, zumindest adressiert findet.

Ist das zu vage?

Ich ziehe mal als Beispiel ein weiteres meiner Lieblingsbücher aus dem Regal, um den Unterschied zwischen Resonanz auf der einen Seite und Identifikation, philosophische Ideen und esoterischem Geschwafel auf der anderen Seite zu markieren.

Trauma und Kinderkarussell

Fotoscheu und genial: Salinger
Fotoscheu und genial: Salinger

J.D. Salinger nahm als US-amerikanischer Soldat am D-Day teil. Wie John Green in einem Video klarmacht, sah er damit viel mehr vom Horror des Krieges als seine anderen Schriftstellerkollegen.

Im Gegensatz zu Joseph Heller oder Kurt Vonnegurt schrieb er aber keinen Kriegsroman nach seiner Rückkehr, sondern mit dem „Fänger im Roggen“ einen Roman über einen 16-jährigen, der von der Schule fliegt und drei deprimierende Tage mit einer Jagdmütze in New York verbringt.

Mit dem im Hinterkopf: Ist es da gerechtfertigt, die Geschichte des 16-jährigen Holden Caulfield als weinerliche Erzählung eines Jugendlichen abzutun?

Die Geschichte von Erste-Welt-Problemen?

Tatsächlich  tut man sich als Leser manchmal schwer, Holden zu mögen, wenn man nicht mehr selbst in der Phase von adoleszentem Weltschmerz steckt.

Und trotzdem dürfte es kaum einen Leser geben, der am Ende bei der poetischen Szene nicht gerührt ist, wenn Holdens Schwester Phoebe auf einem alten Karussell im Kreis reitet und Holden zum ersten Mal im ganzen Roman glücklich ist.

Hier liegt also der Unterschied von Identifikation und Resonanz. Ich muss Holden als Leser nicht sonderlich sympathisch finden. Er ist genauso verlogen und „phony“, wie die Welt, die er genau dieser Laster bezichtigt.

Aber ich fühle mit ihm, weil ich in seiner Erzählung Verlorenheit und den Wunsch nach Empathie wiedererkenne – beides Dinge, die mir nicht fremd sind.

Resonanz meint nicht nur Anteilnahme an der Erzählung, sondern auch die gefühlte Anteilnahme der Erzählung an mir.

Resonanz ist der Funke, der einen formal dichten Text erst zum Leben erweckt – weil er jetzt emotional bedeutend ist.

Das also ist meine Definition von guter Literatur: einen sprachlich dichten Text mit einem bedeutungsaufgeladenem Handlungsverlauf – sowie das Widerhallen von zentralen Fragen des Menschseins.

Zitate aus: Hans-Dieter Gelfert: Was ist gute Literatur? Beck, 2004, S. 77. // Antoine de Saint-Exupéry: Terres des hommes. Folio, 1999, S. 60. // Vladimir Nabokov: Lolita. Penguin, 2011, S. 9.

2 Gedanken zu „Zwei Zutaten, die gute Literatur braucht“

  1. Albert Camus – der Fremde.
    Ist das gute Literatur? oder nicht nur ein Fallbeispiel einer philosophischen Richtung?

    Noch nie löste ein Buch wirklich so viel Resonanz in mir aus :), aber ist das wirklich Literatur? Die Dichte kann ich nicht beurteilen.

    Viel Spaß beim Lesen!

    1. Puh, es ist schon einige Zeit her, dass ich „Der Fremde“ gelesen haben. Ich würde sagen, dass Camus‘ Roman natürlich versucht, seine Philosophie des Absurden beispielhaft darzustellen – aber nicht nur. „Der Fremde“ ist trotzdem ein großartiger Roman für mich, aus drei Gründen:

      1) Er ist gut geschrieben. Viele Szenen beinhalten nur Alltägliches, aber an manche Szenen und ihre Stimmung kann ich mich jetzt – ca. 7 Jahre später – noch erinnern. Etwa die Hitze am Strand, die Meursault kurz vor dem Mord so fertig macht.
      2) Einige Passagen sind wirklich sehr dicht. Das fängt ja schon beim Namen „Meursault“ an, den man lesen kann als „meurs, sot“ (also zu dt. „Stirb, du Tor“). Oder überhaupt der seltsame Anfang mit dem Tod der Mutter, „heute oder gestern“. Nachdem Meursault das Telegramm zitiert, sagt er: „Das will nichts heißen.“ Das Telegramm sagt ihm nichts über die genaue Zeit des Todes. Aber es sagt ihm auch so nichts. Weil ihm der Tod der Mutter gleichgültig bleibt.
      3) Der Roman ist echt rätselhaft: Woher kommt die Gleichgültigkeit Meursaults? Ist sie authentisch – oder nur Theater von ihm? Gegen was richtet sie sich genau? Durch die Rätselhaftigkeit funktioniert der Roman, finde ich. Weil man Meursault nicht wirklich versteht, liest man weiter. Da gibt es auch keine einfachen Antworten, sondern viele ambivalente Szenen. Ich hab einen Aufsatz gefunden, der darauf noch weiter eingeht: http://www.jstor.org/stable/1344914

      Recht viel mehr fällt mir jetzt nicht mehr ein. Außer zu sagen: „Der Fremde“ als Philosophie abzutun, wird dem Roman nicht gerecht 😉

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