Warum gute Literatur manchmal langweilig sein muss

Anspruchsvolle Literatur zu lesen macht nicht immer Spaß. Stellenweise ist das sogar sehr langweilig. Aber gute Literatur muss manchmal langweilig sein. Warum das so ist, liest du hier.

Der Literaturkritiker Rainer Moritz hat sich vor zwei Wochen in der „Neuen Zürcher Zeitung“ beklagt, dass ihm keiner zuhören würde. Dass Literaturkritik wirkungslos sei.

Ah ja, denkt man sich, das Feuilleton beschwört mal wieder seinen Untergang. Moritz‘ Text ist aber mehr als nur das. Er ist zugleich auch ein Plädoyer für schwierige Texte. Für Bücher, die man mehrmals lesen muss, bis man sie versteht. Für welche, die manchmal – und jetzt kommt’s – langweilen.

„Marcel Reich-Ranickis Standardformel, dass die Literatur niemals Langeweile verbreiten dürfe, hat Unheil angerichtet. Denn komplexe, Neues riskierende Literatur will unsere Sehweisen verändern, will nicht das reproduzieren, was wir längst kennen, und deshalb ist sie mitunter sperrig und mag für ungeduldige Leser Langeweile, dieses ‚Offenbarwerden der Leere‘ (E. M. Cioran) ausstrahlen.“ So formuliert das Moritz.

In seinen Abgesang auf die Literaturkritik will ich nicht einstimmen. Aber mit der Langeweile hat Moritz Recht, finde ich. Ich bin sogar der Meinung: Gute Literatur muss manchmal langweilen.

Theorie der Langeweile

Ich habe meine Masterarbeit tatsächlich auch über Langeweile geschrieben. „In und an der Literatur“. Vor allem an der Literatur.

Verkürzt lässt sich meine These so wiedergeben: Spannung ist zu dem Paradigma des gegenwärtigen Literaturkonsums geworden. Soll heißen, wir lesen vor allem, weil wir wissen wollen, was in der Geschichte noch passiert.

Spannung habe ich dann in dieses Modell des Erzählens gefasst: Jede Episode wirft eine Frage auf, die in der folgenden Episode einer Handlung gelöst wird. Episoden sind dabei zeitlich oder ursächlich verknüpft.

Langweilig wird es dann, wenn alles so kompliziert wird, dass ich nicht mehr verstehe, wann in der Geschichte ich mich befinde. Oder warum diese Episode kommt. Zweite Möglichkeit, für Langeweile zu sorgen: Das Ganze wird so flach, dass sich die Episoden zu ähneln beginnen.

Ein Sumpf an Problemen

warum gute literatur langweilig sein muss

Diese Theorie der Langeweile war alles andere als perfekt.

Es gibt unterhaltende Literatur, die gar nicht spannend ist – aber man lacht dabei, ist vergnügt. Eben das Gegenteil von gelangweilt. Es gibt auch interessante Literatur, die nicht spannend ist. Die Handlung ist einem schnurzegal, weiter liest man trotzdem. Und dann gibt es noch vermeintlich spannende Literatur in den Bestsellerlisten, die so schnarchlangweilig ist, dass man darüber einschlummert.

Aus diesem Sumpf von Widersprüchen konnte ich mich am Ende meiner Arbeit auch nicht befreien. In meinem Schluss musste ich ehrlicherweise zugeben, dass meine vermeintlichen Paradebeispiele für Langeweile in der Untersuchung dann doch irgendwie spannend/interessant waren.

Aber für eines taugt meine Theorie immer noch: Langeweile kann eine wichtige Funktion beim Lesen einnehmen. Zumindest für den einigermaßen geschulten Leser.

Das passiert, wenn nichts passiert

Ich glaube: Immer, wenn sich die Seiten mal wieder ziehen und die Lektüre zäh wie alter Kaugummi wird, sollten bei einem Leser die Alarmglocken losgehen. Aufgepasst, hier passiert etwas. Auch wenn es so aussieht, als ob nichts passiert. Gerade dann.

Meine Theorie dazu war und ist: Wenn ich mich langweile, dann deshalb, weil der Text die ausgetretenen Pfade der 0815-Belletristik verlässt. Es wird kompliziert, hermetisch, schwer verständlich, grotesk, absurd oder was weiß ich. Aber nicht als Selbstzweck (hoffentlich). Sondern weil hier etwas erzählt wird, dass sich entweder nicht anders erzählen lässt. Oder weil ein Autor eine neue Perspektive wagt. Weil ein avantgardistischer Text meine eigenen Erwartungen überrollt hat.

Oder vielleicht nur, um sich den gängigen Spannungs-Schemata zu verweigern, um von mir mehr Aufmerksamkeit zu fordern.

Die literarische Revolution

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Warum muss gute Literatur mit Gewohntem brechen? Weil die Funktion einer ästhetischen Form mit der Zeit blass wird. So hat das der Literaturwissenschaftler Juri Tynjanow gedacht. Er prägte die Theorie der „literarischen Revolution“ (der Link für zu einem Handout über Tynjanows Theorie).

Grob gesagt: Literarische Formen nutzen sich ab. Hatte eine bestimmte literarische Form zu einem bestimmten Zeitpunkt eine bestimmte Funktion, kann dieselbe Form diese Funktion später nicht mehr ausfüllen. So viel dazu für meine Argumentation. Oder um es anschaulicher auszudrücken:

„Nur das Schaffen neuer Formen in der Kunst kann dem Menschen das Erleben der Welt zurückgewinnen, die Dinge aufwecken und den Pessimismus töten.“ (Šklovskij, Die Auferweckung des Wortes)

Oder um es noch einmal anders zu sagen:

Die immer gleichen Plots, die immer gleichen Stilmittel, die immer gleichen Kniffe tun es irgendwann einfach nicht mehr. Ein Thriller von Simon Beckett & Co. reicht. Der richtige Beckett langweilt dagegen immer wieder auf eine neue Weise – und hat die Chance, die Wörter aufzuerwecken.

das ist anders geschehen ja ganz anders ja, aber wie keine Antwort wie ist es geschehen keine Antwort was ist geschehen keine Antwort WAS IST GESCHEHEN Gebrüll gut

(Beckett, Wie es ist)

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